Artikel in Draussenseiter

 

„ICH WÜNSCHE MIR RESPEKT VOR DEM INDIVIDUUM“

Ossi Helling, Marco Jesse und Karl Karam im Gespräch in der OASE

Der Krieg gegen die Drogen ist trotz aller seit Ende der Achtziger vorgenommenen Veränderungen immer noch ein Krieg gegen die Abhängigen. Deren Leben bleibt geprägt von Kriminalisierungsdruck, Inhaftierung, Obdachlosigkeit, Psychiatrisierung, Ingewahrsam- und Festnahmen. Von den ca. 64 000 Häftlingen in Deutschen Jugendvollzugsanstalten sitzen beispielsweise etwa die Hälfte „wegen oder mit Betäubungsmittelgesetz-Hintergrund“. In Deutschland leben etwa 200.000 Heroin- und Opiat-Abhängige, in Köln ca. 3000. Als Kölner Bürger erfährt man jedoch recht wenig über die Situation von Drogenkonsumenten in der eigenen Stadt. Wir haben deshalb den Kölner Politiker Ossi Helling (Die Grünen), Mitglied im Polizeibeirat Köln, Stellvertretender Vorsitzender des Sozialausschusses sowie seit Jahren engagiert in der Drogenhilfe zum Round Table geladen – mit dabei der Kölner Politologe Karl Karam, selbst seit 21 Jahren drogenabhängig und kritischer Beobachter der europäischen Drogenpolitik, sowie Marco Jesse, Geschäftsführer von VISION e.V., einem Verein für innovative Drogenselbsthilfe. Das Gespräch in der OASE moderierte Christina Bacher.

DRAUSSENSEITER: Als Kölner Bürger erfährt man recht wenig über die Situation von Drogenkranken in der Stadt. Wir dachten also, wir laden anlässlich unseres Themenschwerpunkt Menschen zum Gespräch, die sich auskennen. Gibt es denn in Köln zur Zeit eine drogenpolitische Diskussion?

Ossi Helling: Nicht wirklich. Aus diesem Grund ist es mir wichtig, eine solche anzustoßen. Ich frage mich, warum zum Beispiel die Schließung des rechtsrheinischen Konsumraums einfach hingenommen wird, ohne dass es einen Aufschrei gibt. Und wenn schon in der lokalen Presse keine drogenpolitische Diskussion mehr stattfindet, wie sollen dann die Kölner Bürger erfahren, was im Argen liegt. In erster Linie bin ich also heute als Politiker hier, der etwas anstoßen möchte, was schon lange fällig ist – eine Diskussion in und mit der Öffentlichkeit.

Marco Jesse: Das kann ich leider bestätigen. Drogenkonsumenten haben in der Öffentlichkeit keine Lobby – ob hier in Köln oder anderswo. Da stößt man selbst bei innovativen Projekten häufig auf taube Ohren. Im letzten Jahr wurde von VISION e.V. beispielsweise auf dem Gelände der Anlaufstelle in Köln-Kalk ein Skulpturengarten eröffnet. Die ausgestellten Werke stehen zum Verkauf und ein Teil der Erlöse kommt der Einrichtung zugute. Das Ganze ist durch eine Kooperation mit dem Künstlernetzwerk „Crossart“ entstanden – ein tolles Projekt, gelesen hat man darüber in der Presse leider wenig. Noch gravierender ist die Situation rund um den bundesweiten Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher am 21. Juli. Trotz intensiver Pressearbeit ist eine Resonanz kaum zu bemerken. Das ist besonders schade, weil den Drogenkonsumenten ein Sprachrohr für ihre Bedarfe fehlt. Selbst, wenn sie etwas Positives zu vermelden haben, will es niemand hören. So kann der dringend erforderliche gesellschaftliche Diskurs über eine neue, veränderte Drogenpolitik nicht gelingen. Auch die lokalen Medien tragen hier eine große Verantwortung.

Karl Karam: Eine drogenpolitische Diskussion findet tatsächlich in Köln so gut wie nicht statt. Das ist umso merkwürdiger, weil Themen wie Drogenszene und Drogenkriminalität Dauerthemen in den Lokalmedien sind. Der Normalbürger denkt ja auch, es gibt genug Hilfe für z.B. Heroinabhängige, da gäbe es keinen akuten Handlungsbedarf. Eine besondere Enttäuschung sind für mich die Drogenhilfen – nicht nur in Köln,- die sich in den letzten Jahrzehnten völlig entpolitisiert haben und scheinbar nur noch auf Besitzstandswahrung aus sind. Sie wären es, die am ehesten eine politische Diskussion anstoßen könnten. Aber was z.B. die flächendeckende Versorgung mit Diamorphin angeht, die dringend notwendig und seit 2009 gesetzlich möglich ist, ergreifen sie nicht die geringste Initiative, lehnen sie sogar mancherorts auf lokaler Ebene ab.

Ossi Helling: Für Köln stimmt das nicht. Hier haben rot-grüne Politik und Drogenhilfe-Einrichtungen sowohl Konsumräume als auch die kontrollierte Originalstoffvergabe ermöglicht.

DRAUSSENSEITER: Worin liegen denn die Gefahren bei dem Stoff, den man auf der Straße kauft, im Gegensatz zum reinen Heroin?

Karl Karam: Der ist vielleicht vergleichbar mit dem Wodka aus dem Supermarkt und dem vom Laien Selbstgebrannten und zusammengepanschten Schnaps. Straßenheroin wird auf dem Weg von der Herstellung in illegalen Labors bis auf die Märkte in den Industriestaaten immer wieder gestreckt, so dass es auf der Straße in Köln z.B. höchstens noch 20 % Heroin enthält, eher weniger. Die meisten Zwischendealer haben zudem natürlich null Ahnung von Pharmazie und solchen Dingen, einen Konsumentschutzbeauftragten gibt es bei den Kartellen meines Wissens auch nicht; in aller Regel erhält also ein Drogenkonsument mit allen möglichen Giften verpanschtes, sogenanntes Straßenheroin. Reines Heroin oder auch Diamorphin dagegen sind Medikamente, hergestellt in Pharmafirmen, sowie andere Medikamente auch, in Qualität und Dosierung genau berechenbar.

Marco Jesse: Rein technisch wäre es ja gar kein Problem, dass man die Schwarzmarktdrogen auf ihren Reinheitsgehalt überprüfen lassen könnte, bevor man ihn konsumiert. Aber dieses Angebot beispielsweise in Konsumräumen und/oder anderen niedrigschwelligen Anlaufstellen zu installieren, ist abgeschmettert worden.

DRAUSSENSEITER: Worin seht ihr die Nutzen und Grenzen von kontrollierter Heroinvergabe, beispielsweise in den Konsumräumen?

Marco Jesse: Die sogenannte „kontrollierte Heroinvergabe“ ist ein ärztliches Behandlungsangebot, das komplett unabhängig von Konsumräumen ist. Der positive Effekt dieses Behandlungsansatzes ist unbestritten. Sowohl Straffälligkeiten als auch gesundheitliche Risiken gehen deutlich zurück. Zudem fördert es die soziale und berufliche Integration. Die Grenzen werden klar durch die Richtlinien bestimmt – der Zugang ist stark beschränkt, die Sicherheitsauflagen sind hoch und führen zu immensen Kosten.

Karl Karam: Spritzentausch oder Fixerstuben sind ja eine tolle Sache, was die Eindämmung von Infektionskrankheiten betrifft. Aber mit Drogenpolitik im engeren Sinne haben sie eigentlich nichts zu tun, denn in der geht es – wie der Name schon sagt – um Drogen. Und die muss sich der Süchtige, sei es mit neu getauschter Spritze, sei es im Fixerraum, immer noch illegal auf dem Schwarzmarkt besorgen, mit allen juristischen und vor allem gesundheitlichen Risiken. Eben darum ist das Ganze doch eine Scheindebatte, die da geführt wird: Man hat also – sehr öffentlichkeitswirksam – dort für sauberes Spritzbesteck gesorgt, um sich die Leute weiterhin Gift in die Adern spritzen zu lassen. So etwas kann man doch nicht als Erfolgskonzept verkaufen, jedenfalls nicht als drogenpolitisches.

Ossi Helling: Ich sehe das nicht so negativ. Natürlich haben Konsumräume was mit Drogenpolitik zu tun. Wir haben jahrelang gekämpft, um dieses Angebot in den deutschen Großstädten durchzusetzen. Andererseits ist die drogenpolitische Wirkung begrenzt, weil in der Tat die Drogen selber nicht legal erworben, sondern auf dem illegalen Weg beschafft werden.

DRAUSSENSEITER: Am 21.7.2009 hat ja der Bundestag beschlossen, dass Diamorphin zur Substitutionsbehandlung eingesetzt werden kann. Was hat sich seither verändert?

Marco Jesse: Leider viel zu wenig. Bis heute gibt es das Angebot immer nur noch in den Städten, in denen schon in der Studienphase Diamorphinambulanzen betrieben wurden. Besonders in kleineren Städten und im ländlichen Bereich sind wir meilenweit von der Umsetzung dieses Behandlungsangebotes entfernt. Auch die Einführung von unterschiedlichen Applikationsformen lässt auf sich warten.

Karl Karam: Diamorphin hat sich dem Methadon als überlegen erwiesen, das beweisen inzwischen unzählige mehrjährige Studien in verschiedenen Ländern. Die Gesundheit der Probanden hat sich enorm verbessert, die Beschaffungskriminalität ging auf fast null zurück, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich mehr als verdreifacht u.s.w. Seit 2009 ist die Vergabe von Diamorphin im gesamten Bundesgebiet zulässig, 2010 wurde es in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen. Trotzdem wird dieses bessere Medikament den meisten Patienten – und das sind immerhin ein viertel Prozent der Bevölkerung – weiter verweigert. Ginge es um Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herzschwäche, wäre längst ein Aufschrei der Empörung durch die Medien gegangen. Aber Drogensüchtige haben keine Lobby.

DRAUSSENSEITER: Wie läuft denn heutzutage eine Substitutionsbehandlung ab? Ist das ein gangbarer Weg für einen Suchtkranken?

Karl Karam: Drogensüchtige werden in erster Linie immer noch als kriminell und nicht als krank behandelt. Der Süchtige kann „wählen“ aus einer Vielfalt repressiver Maßnahmen und Institutionen wie Knast oder geschlossene Psychiatrien, die Substitution ist nur eine davon. Auf der Strecke geblieben ist jede auch nur geringste Form von freier Selbstbestimmung außerhalb des Apparates; man kann sich als Opiat-Abhängiger nicht mal mehr legal ein Päckchen Codein in der Apotheke oder beim Hausarzt besorgen. Im Grunde werden den Drogenkranken alle Möglichkeiten versperrt, sich irgendwie anders zu versorgen als mit Straßenheroin, oder sich eben in die Drogenhilfe zu begeben. Die sogenannten Drogenhilfen hat dieses totale Behandlungsmonopol schwerfällig und entwicklungsresistent gemacht, denen es bei „Hilfe“ zuerst einmal um sich selbst und ihre Besitzstände geht. Genaugenommen werden die Junkies so in die Unselbstständigkeit gezwungen.

DRAUSSENSEITER: Es gibt ja Länder, in denen die Legalisierung von Drogen zur drastischen Senkung von Beschaffungskriminalität geführt hat, sogar zu einem Rückgang von Drogentoten. In Deutschland undenkbar?

Karl Karam: Ich denke, dass vor allem wirtschaftliche Interessen dahinter stecken, warum man Drogen wie Heroin nicht legalisieren wird. Da geht es um internationale Handels- und Finanzpolitik, um Waffen- und Pharmaindustrie, um Macht und Kriege bis hin zu Massenmorden und unvorstellbar viel Geld. Klingt dramatisch oder verschwörungstheoretisch, ist sicher auch schwer im Detail zu beweisen. Fakt ist doch, dass viele – auch international einflussreiche – Leute sehr viel Geld daran verdienen. Warum also legalisieren? Um den Konsumenten zu schützen? Wer sollte daran ein Interesse haben? Allerdings verschafft sich international gegenwärtig ein Umdenken immer deutlicher Gehör, was tatsächlich aufhorchen lässt und Hoffnung macht.

Ossi Helling: Weltweite wirtschaftliche Interessen stecken tatsächlich dahinter. Primär wird aber nicht wirtschaftlich oder politisch argumentiert, sondern aus medizinischer Sicht. Viele Mediziner lehnen jegliche Legalisierung strikt ab; selbst das Kiffen wird inzwischen als gesundheitsgefährdend eingeschätzt. Während man früher davon ausgegangen ist, dass leichte Drogen nicht zwingend suchtfördernd sind und vielleicht in gewisser Dosierung sogar Kreativität fördern, sagen neue Studien, dass beispielsweise die Jugendlichen in erschreckend kurzem Zeitabstand komplett abstürzen, Psychosen bekommen, destabilisiert sind usw..

DRAUSSENSEITER: Wie sieht das Hilfesystem in Köln heute aus?

Marco Jesse: Vor über 20 Jahren sind viele Projekte aus einem enormen Leidensdruck heraus entstanden, weil es damals noch nicht im Ansatz ein passendes Hilfeangebot gab. Es gab ja nur die Wahl zwischen Abstinenz und Konsum – nichts dazwischen. Inzwischen ist das Hilfesystem gewachsen, hat sich mit unterschiedlichen Unterstützungsangeboten ausdifferenziert – somit gibt es nicht mehr die Extreme von damals. Man muss sich heute nicht mehr zwischen einem Leben in der Szene oder in der Abstinenz entscheiden, wenn man das nicht möchte. Das ist erst einmal eine gute Entwicklung.

Ossi Helling: Im Jahr 2012 wurden offiziell 28 Drogentote in Köln verzeichnet. Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hörte man von 60 bis 70 Drogentoten im Jahr. Das sehr ausdifferenzierte Hilfesystem mit Notschlafstellen, Konsumraum, Methadonvergabe, Kontaktcafes usw. führt heute zu einem verbesserten Gesundheitszustand und besserer sozialer Integration. Dazu kommen Angebote, die dem einzelnen Abhängigen sogar Arbeitsmöglichkeiten bieten; die Zweiradwerkstatt ist beispielsweise so eine Art Tagelöhner-Modell. Es gibt also erstmals Einrichtungen, zu denen man gehen kann, ohne abstinent zu sein oder ohne, dass man einen achtstündigen Arbeitstag durchhalten muss. Diese Angebote haben Fortschritte gebracht in der Reintegration. Andererseits stützt das aber auch den Klienten-Status, man begibt sich in Abhängigkeiten vom jeweiligen Anbieter. Vielleicht fördert das alles nicht gleichzeitig Autonomie und Selbstbewusstsein.

Karl Karam: Verglichen mit vielen anderen Städten, ganz zu schweigen von der Versorgung auf dem Land, ist das Hilfesystem in Köln durchaus vorbildlich. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der gesamte Drogenhilfe-Apparat immer noch massiv repressiv strukturiert ist und eng mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet. „Entgiftungen“ finden ausschließlich in geschlossenen Psychiatrien unter teils menschenunwürdigen Bedingungen statt. Die sogenannten Drogentherapien sind defacto verlängerte Institutionen des Strafvollzuges, wo fast nur noch „Therapie statt Strafe“ abgesessen wird. Auch ohne guten Anwalt kann man so einen großen Teil seiner Haftstrafe erlassen bekommen. In den Therapien findet man daher immer weniger Süchtige und immer mehr gewöhnliche Kriminelle vor. Es hat sich doch längst herumgesprochen, dass man bei Einbruchs-, Diebstahls- oder Raubdelikten am besten „auf drogensüchtig“ macht. Ich möchte das nicht bewerten, aber geeignete Orte für eine Behandlung von Drogenkranken sind das nicht. Und dann gibt es natürlich noch die Substitution, in denen es sehr auf die Einrichtung und die Ärzte ankommt, aber auch dort ist der rechtliche Rahmen sehr repressiv strukturiert und mancher „zu liberale“ Mediziner findet sich schnell vor dem Kadi wieder. Drogenkranke werden bis heute durchgehend mehr als Kriminelle und weniger als Patienten behandelt, eine der wissenschaftlichen Forschung adäquate Entwicklung hat nicht stattgefunden.

DRAUSSENSEITER: Höre ich da massive Kritik heraus?

Marco Jesse: Die Einrichtungen haben ja in ihre Satzung oft ganz selbstverständlich die „Förderung von Selbsthilfe“ aufgenommen. Da sie aber kein Geld dafür bekommen, lösen sie es faktisch nicht ein. So bieten sie zwar Hilfe an, aber eben nicht Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist kein Punkt ihrer Arbeitsbeauftragung. Soziale Einrichtungen funktionieren heute genauso ökonomisch wie andere wirtschaftliche Einrichtungen. Natürlich finde ich das nicht gut, aber es ist ein Teil der Realität, in der wir uns bewegen. Selbsthilfe zu fördern bedeutet auch, dass man sich die Zeit dafür nimmt und man räumlich und finanziell dafür gerade steht.

DRAUSSENSEITER: Was erwartet ihr von den Parteien in Sachen Drogenpolitik?

Karl Karam: Die Grünen haben sich ja immer in diesem Bereich engagiert, haben ja auch die Heroinvergabe angestoßen -aber jetzt scheint es so, als machen sie gar nichts mehr. Offenbar müssen jetzt die Piraten die Grünen zurückholen in die Drogenpolitik.

Ossi Helling: Soweit ich das sehe, haben die Piraten in den Parlamenten noch keine einzige drogenpolitische Initiative gestartet. Es stimmt aber, dass bei den Grünen eine Schwerpunktverlagerung stattgefunden hat; drogenpolitisch sind wir derzeit etwas passiv. Allerdings ist unsere Grüne Jugend stets dabei, wenn es um drogenpolitische Aktionen geht. Die Bundestagsfraktion hingegen scheint immer reaktiver, statt aktiver zu werden: Im Jahre 2012 gab es beispielsweise einen neuen Aktionsplan Sucht, dabei hat man zwar die anderen Parteien umfassend für das kritisiert, was sie tun – musste aber auch selbst nicht aktiv werden. Vorstöße, z.B. zur Ausweitung der Originalstoffvergabe auf weitere Großstädte, vermisse ich bei den Grünen.

Du sprichst da etwas an, was die Folge davon ist, dass wir als Grüne eben an allen möglichen Stellen mitregieren müssen, um eine Mehrheit zu bekommen. Wir sind ja nirgendwo mit absoluter Mehrheit am Steuer. Ich denke daran, wie schwierig es alleine in Köln war, die SPD zu gewinnen, die Vertreibung des Junkie Bundes nicht voranzutreiben. Einzelne Ortsverein-Mitglieder wollten den Verein am liebsten ganz aus Köln verbannen. Die Grünen haben mit unheimlicher Mühe auf Kölner Ebene den Beschluss gefasst, dass es diesen Umzug des Junkie Bundes innerhalb des Stadtbezirks geben kann, sowie seine weitere Finanzierung gesichert. Auf Bundesebene sieht es noch schwieriger aus: Wenn wir für die Entkriminalisierung aller Drogen eintreten, und diese dann in einer rot-grünen Bundesregierung nicht mit einer Mehrheit durchsetzen können, dann erzeugen wir unter Umständen auch Politikverdrossenheit.
Dann heißt es: Auch die Grünen haben leere Versprechungen gemacht. Ich denke, deshalb sind die Bundesgrünen da ruhiger geworden. Es steht doch für einen Politiker immer die Frage im Raum: Was ist denn überhaupt in bestimmten Regierungskoalitionen realisierbar?

Marco Jesse: Selbst Dinge, die die Politik umsetzen und verändern könnten, sind zur Zeit nicht drin, das muss man ganz klar sagen, dass die Grünen da ihre Versprechen gerade nicht einlösen. Jedenfalls nicht auf Bundesebene. Aber auch die anderen etablierten Parteien sind nur zu schnell bereit ihre drogenpolitischen Forderungen über Bord zu werfen, sobald sie in Regierungsverantwortung treten.

DRAUSSENSEITER: Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Marco Jesse: Mein größter Wunsch wäre, dass die Erkenntnisse aus vielen Jahren Prohibition und „Krieg gegen Drogen“ genutzt werden, um eine grundsätzlich neue Drogenpolitik umzusetzen, die auf Respekt vor dem Individuum aufbaut. Dies sollte die Grundlage für eine Legalisierungsdebatte und im Nachklang die Abschaffung der strafrechtlichen Anteile des Betäubungsmittelgesetz (BtmG) bilden.

Karl Karam: Die Drogenhilfen sollten sich endlich an die Spitze der Bewegung für eine neue, zeitgemäße und pragmatische Drogenpolitik stellen, anstatt – wie bisher – nur Besitzstandswahrung als verlängerter Arm des Justizapparates zu betreiben. Eine selbstverständliche Forderung wäre dann u.a. natürlich endlich Diamorphin für alle, die es brauchen.

Ossi Helling: Der internationale Krieg gegen Drogen scheitert seit mehreren Jahrzehnten. Es gibt viele Stimmen, die Drogenhandel und Konsum von Erwachsenen legalisieren wollen. Das würde dem Staat Steuern bringen. Und gleichzeitig könnte ein verantwortungsvoller Umgang mit allen bisher legalen und illegalen Drogen verstärkt propagiert werden.

DRAUSSENSEITER: Vielen Dank für das Gespräch.

Quelle: Draussenseiter

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